Extremismus und Gewaltbereitschaft

Radikales oder extremistisches Gedankengut allein ist noch kein reales Risiko. Laut Gesinnungs- und Meinungsäusserungsfreiheit ist es zulässig, sofern es die Antirassismus-Strafnorm nicht verletzt oder zu Gewaltausübung animiert. Interventionsbedarf besteht erst, wenn eine Person bereit ist, diese Überzeugungen entweder selbst gewaltsam durchzusetzen oder andere darin zu unterstützen1. Für Sozialarbeitende der Sozialdienste und Fachpersonen, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten, ist es oft schwierig, diese Grenze zu erkennen. Sie verfügen meist nicht über genügend gesichertes Wissen, um diese Einschätzung vorzunehmen.

Bei der Risikobeurteilung muss der Fokus auf beidem liegen: sowohl auf den ideologischen Überzeugungen einer Person als auch auf ihrer Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, andere dazu aufzurufen oder sie bei der Gewaltausübung zu unterstützen. Gewalttätiges, extremistisches Handeln muss - ebenso wie nicht-gewalttätiges, extremistisches Handeln wie etwa die Terrorismus-Finanzierung - immer professionell analysiert werden. Die Kenntnis problematischer personen- und umweltbezogener Faktoren – insbesondere der Denk- und Verhaltensmuster – erlauben es, Risikoszenarien und Interventionsempfehlungen abzuleiten. In Fällen, wo sich extremistische Einstellungen abzeichnen, empfehlen wir dringend, sich an die zuständige kantonale oder städtische Anlaufstelle zu wenden. Bei angedrohten Gewalthandlungen müssen Sie die Polizei kontaktieren (117).

Ein junger Mann (18 J.) engagiert sich für ein autonomes Jugendzentrum und nimmt an Protestaktionen teil, um die drohende Schliessung des Zentrums abzuwenden. Zusammen mit anderen Jugendlichen und Erwachsenen fertigen sie Transparente an und planen unbewilligte Demonstrationen. Erfahrene Mitglieder dieser Gruppe instruieren ihn, wie er Polizeiblockaden umgehen kann, und wie sie diese mittels Ablenkungsmanöver an Nebenschauplätzen aufweichen können. Bei der Demo drängen die Organisierenden die jüngeren Teilnehmenden in die vorderste Reihe – damit diese mehr Polizeigewalt abbekommen und bei weiteren Aktivitäten aggressiver und radikaler auftreten. Beim betroffenen Jugendlichen erzielen sie genau diese Wirkung: In der Folge nimmt er an szeneinternen Kampftrainings teil und radikalisiert sich in seinen Ansichten. Er beginnt, den Staat und - als dessen verlängerter Arm auch die Polizei - als Feind zu betrachten, den es zu bekämpfen und zu stürzen gilt. In der Berufsschule distanziert er sich zusehends von Mitschülerinnen und Mitschülern, die seine Positionen nicht teilen, und bewegt sich letztlich nur noch in der autonomen Szene. Er zerstreitet und überwirft sich mit seiner Familie, bricht seine Lehre ab und lebt in einer besetzten Liegenschaft. Als er Sozialhilfe beantragt, versucht die zuständige Sozialarbeiterin mit ihm eine berufliche Perspektive zu entwickeln. Er lehnt «die Gesellschaft» jedoch grundsätzlich ab und möchte nicht Teil ihres Wirtschaftssystems sein. Er verweigert die Teilnahme an Arbeitsintegrationsprogrammen, die damit verbundenen finanziellen Sanktionen nimmt er hin.

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Hinweis:
Die Fallbeispiele illustrieren die jeweilige Thematik und die damit verbundenen Herausforderungen. Sie enthalten jedoch nicht unbedingt Empfehlungen dazu, welche Massnahmen in den dargestellten Radikalisierungsfällen ergriffen werden sollten. Diese gilt es von Fall zu Fall sorgfältig abzuwägen und zu beschliessen. Einige Beispiele präsentieren aber Präventionsmassnahmen, welche sich in vergleichbaren Situationen als wirksam herausstellen können.

  • 1 Rohner, Barbara & Ajil, Ahmed (2021). Die Risikobeurteilung zur Erkennung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus im Justizvollzug. Fribourg: Schweizerisches Kompetenzzentrum für Justizvollzug (SKJV).