Ursachen für Hinwendungs- und Radikalisierungsprozesse

Oft schliessen sich junge Menschen einer extremistischen Bewegung an, wenn folgende Aspekte erhöhter Vulnerabilität, Wahrnehmung von Gesellschaftsproblemen und extremistischer Deutungs- und Identifikationsangebote zusammentreffen1:

  • Sinnkrisen, Identitätsprobleme, Gefühl von ungerechter Behandlung, Drogen, Delinquenz und Konflikt: Die Betroffenen haben Erfahrungen und Krisen durchlebt. Das unterstützt den Prozess, sich zu öffnen und nach neuen Orientierungen und Wertvorstellungen zu suchen.  
  • Empörung über (geo)politische Konflikte und Veränderungen (ökologische, soziale, gesellschaftliche), ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse, Diskriminierung und Benachteiligungen.
  • Identifikation mit einer extremistischen Ideologie: Eine Ideologie deutet das Weltgeschehen, befördert Utopien, Idealismus und Schreckensszenarien und identifiziert Schuldige. Sie präsentiert eine Lösung für reale oder fehlgedeutete Probleme und motiviert, die Ideologie zu verwirklichen und mitzutragen.  
  • Einbindung in abgeschottete Gruppen, indem Zusammenhalt und Kameradschaft idealisiert werden. Gruppendruck und Loyalität sowie soziale Bindungen innerhalb der Gruppe fördern die Bereitschaft zu gemeinsamen Aktionen und die Akzeptanz von Gewalt.  

Meist sind Krisen und Brüche, politische Ideen und Ideologien sowie Gruppenprozesse mitentscheidend dafür, ob sich jemand einer extremistischen Bewegung anschliesst oder nicht. Um zu verstehen, warum eine Person sich einer radikalen Ideologie zuwendet, ist es hilfreich, ihre Entwicklung und Erfahrungen zu analysieren. Bei Jugendlichen können alterstypische Entwicklungen eine Radikalisierung fördern. Dazu gehören etwa Ablösungsprozesse, soziale Neuorientierung, Provokation oder Risikoverhalten.

Ein Jugendlicher (15 J.) aus zerrütteter Familie wächst zusammen mit seinem jüngeren Bruder bei seinem Vater auf. In der Schule wird er ausgegrenzt und gemobbt. Er schliesst sich einer lokalen rechtsextremistischen Gruppierung an und trägt deren Outfit. Das führt dazu, dass in der Schule alle Jugendlichen einen Bogen um ihn machen – aus Angst, dass er und seine Gruppierung sie bedrohen. Dieser Respekt bestärkt ihn in seiner Gruppenzugehörigkeit, und er übernimmt den Jargon und die fremdenfeindlichen, rassistischen Haltungen der anderen Mitglieder. Er ist immer wieder in gewalttätige Aktionen gegen linke Jugendliche sowie Ausländerinnen und Ausländer involviert. Ebenso in gruppeninterne Gewalt, die sich gegen angeblich abtrünnige Rechtsextremisten richtet. Das stärkt zwar seinen Loyalitätsdruck, weckt in ihm aber auch Ängste und Abscheu gegenüber solchen Gewaltexzessen. Seine Lehrstellensuche verläuft lange erfolglos. Letztlich kann er in einen Bauberuf einsteigen. Dort arbeitet er vorwiegend mit Ausländerinnen und Ausländern zusammen, welche sich aufgrund seiner Tätowierungen, die seine rassistische Haltung wiedergeben, zuerst misstrauisch verhalten. Mit der Zeit nähern sich aber beide Seiten an. Der Jugendliche entwickelt freundschaftliche Gefühle für seine Arbeitskolleginnen und -kollegen, die er vor seiner rechtsextremistischen Gruppierung verbergen muss. Über diese inneren Konflikte tauscht er sich vertraulich mit einem Jugendarbeiter aus. Dieser legt ihm eine professionelle Ausstiegsberatung nah, was der Jugendliche jedoch ablehnt. Der Jugendarbeiter empfiehlt ihm umzuziehen, was er dann auch tut, um sich dem Einfluss der rechtsextremistischen Gruppierung zu entziehen.

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Hinweis:
Die Fallbeispiele illustrieren die jeweilige Thematik und die damit verbundenen Herausforderungen. Sie enthalten jedoch nicht unbedingt Empfehlungen dazu, welche Massnahmen in den dargestellten Radikalisierungsfällen ergriffen werden sollten. Diese gilt es von Fall zu Fall sorgfältig abzuwägen und zu beschliessen. Einige Beispiele präsentieren aber Präventionsmassnahmen, welche sich in vergleichbaren Situationen als wirksam herausstellen können.

Angebote extremistischer Gruppen können attraktiv wirken, wenn sie den Betroffenen nach einem bisher eher schwierigen Lebensweg folgendes geben können:

  • Identität und Zugehörigkeit;
  • Sinn;
  • Selbstwert infolge des Anspruchs, eine exklusive Wahrheit zu besitzen.

Die strikte Unterscheidung zwischen «gut» und «böse» oder auch der Kampf für Gerechtigkeit für angeblich verfolgte bzw. bedrohte Gruppen gibt ihnen Orientierung und appelliert an ihre Solidarität mit den anderen Mitgliedern. Auf der emotionalen Ebene bieten extremistische Angebote eine Möglichkeit, aufgestauten Hass mit Gewalt zu kompensieren und die Gewalt mithilfe einer Ideologie zu legitimieren.

Als Aussenstehende auf Radikalisierungsprozesse reagieren
Für Aussenstehende sind Hinwendungs- und Radikalisierungsprozesse oft nicht einfach nachzuvollziehen, weil sich die Jugendlichen zuvor an völlig anderen Werten und anderem Verhalten orientiert haben. Die Veränderungen, die nun plötzlich oder über einen gewissen Zeitraum zunehmen, können Familie, Freundinnen und Freunde oder begleitende Professionelle vor den Kopf stossen und zu einer Distanzierung gegenüber der oder dem Jugendlichen führen. Die betroffenen Jugendlichen sind sich der Risiken (Manipulation und Indoktrination durch die extremistische Gruppierung) und der Schädlichkeit (Selbst- und Fremdgefährdung) sowie der Perspektivenminderung (Abbruch der Ausbildung, Absonderung etc.) oft zu wenig bewusst. Ihre Bezugspersonen hingegen sehen insbesondere diese Folgen und möchten die Jugendlichen davor bewahren und sie «zur Vernunft bringen»2.

In diesen Momenten gilt es, zwischen dem jugendlichen Experimentieren und dem Risiko abzuwägen und - zwecks Früherkennung - rechtzeitig professionelle Unterstützung beizuziehen. Denn, je weniger die Jugendlichen ihre neue Einstellung bereits verfestigt haben, desto einfacher ist es, sie zur kritischen Selbstreflexion anzuregen und ihre Interessen an gesellschaftlichen Problemen auf eine andere Ebene zu bringen.

  • 1 Eser Davolio, Miryam & Lenzo, Daniele (2017). Radikalisierung & Extremismus. Sicher!gsund, Kanton St.Gallen.
  • 2 Eser Davolio, Miryam (2017). Hintergründe jihadistischer Radikalisierung in der Schweiz – eine Fallstudie. In: Hoffmann, Jens & Böckler, Nils (Hrsg). Radikalisierung und extremistische Gewalt: Perspektiven aus dem Fall- und Bedrohungsmanagement. Frankfurt a.M.: Verlag für Polizei und Wissenschaft, S. 155-165.